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Internationale wissenschaftliche Tagung in Mainz 2010

"Mystik, Recht und Freiheit"

Bericht über die internationale, wissenschaftliche Tagung der Kollegforschergruppe des Max Weber Kollegs „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“, Abt. IV Mittelalter in Erfurt (MWK) in Zusammenarbeit mit der Akademie der Diözese Mainz im Haus am Dom Mainz:

„Mystik, Recht und Freiheit: Die spätmittelalterliche Suche nach religiöser Erfahrung im Kontext der Inquisition und ihre heutige Bedeutung für die Debatte um religiöse Freiheit.

Zum Gedächtnis an Meister Eckhart (geb. um 1260) und Marguerite Porete (als Ketzerin verbrannt am 1. Juli 1310)“

10. bis 12. September 2010

Leitung:
Professor Dr. Dietmar Mieth, Präsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft, mit Frau Dr. des. Britta Müller-Schauenburg für die Kolleg-Forschergruppe des MWK, Am Hügel 1, 99084 Erfurt.

Aufgrund der Zusage von Kost und Logis für 30 Teilnehmer, Referenten und Gesprächspartner seitens des Erbacher Hofes (insgesamt 3000,- Euro) fallen für die KFG nur Reisekosten für die Referenten an. Prof. Yoshiki Koda, Referent aus Tokyo, wird von einer japanischen Stiftung finanziert.

Teilnehmerzahl variierend von 62 bis über 100 (Abendvortrag)

Das 13.-15. Jahrhundert ist von einer zunehmenden kirchlichen und weltlichen Verrechtlichung geprägt. Diesem Trend korrespondiert eine Heilsvergewisserung durch persönliche Erfahrung. Beide Entwicklungen vollziehen sich vor allem im Rahmen einer Urbanisierung und Pluralisierung von Lebensformen . In diesem Kontext stellen religiöse Einzelgestalten, die literarisch fassbar sind, die Grenzen des bisher Vertrauten mit ihrer religiösen Sprache und mit ihrer Lebenspraxis in Frage. Auffallend ist hier besonders die Beginenbewegung, die trotz ihres gemeinsamen Anliegens eines geistlichen Lebens in einer geordneten, selbstreferentiellen Gemeinschaft nicht unter einer übergreifenden Regel gefaßt war und in deren Umkreis sich freigeistige Strömungen zu entwickeln schienen. Einen gewaltsamen Höhepunkt des Konfliktes zwischen Beginentum und kirchlichem Ordnungswillen stellt der Prozess gegen Marguerite Porete in Paris 1308-1310 dar, der zu ihrer Verbrennung als hartnäckige Ketzerin führte (1. Juni 1310).

Marguerite, und ebenso ihr Zeitgenosse Meister Eckhart (1260-1328), und mit ihnen ein ganzes Spektrum von Frauen- und Laienbewegungen stehen aus der Retrospektive gesehen prominent für eine Freiheit und Offenheit religiösen Denkens. Diese Freiheit des Denkens und der Erfahrung vermögen heute immer noch eine große Faszination auf religiös Suchende auszuüben. Dieselben Personen stehen freilich in der Rolle der Angehörigen und der Angeklagten auch auf komplexe Weise im Kontext der Kirche als Institution, und nicht einfach ihr gegenüber. Eckhart war selbst Mitglied eben jenes Dominikanerordens, der in der Inquisition Geschichte schrieb.

In der Eckhart-Forschung fungiert der Häresieprozess, der zunächst gegen ihn geführt wurde, bisher vornehmlich als ein historisches Faktum. Vorgehen und Ergebnis wurden - ähnlich beim Prozess gegen Marguerite – zumindest in den Rahmendaten erforscht und dokumentiert. Weniger erforscht wurde die Frage der produktiven bzw. kontrastivem Wechselwirkung von kirchlicher Restriktion und seinem Denken. Der Grund hierfür liegt vielleicht in der allgemein eher Institutionen-skeptischen Haltung, die für die Mystik-Forschung charakteristisch war und ist, die den Faktor der Institution entweder nicht in den Fokus ihrer Untersuchung stellt, oder sogar einen Gegensatz von Institution und Mystik konstruiert. Kurt Flasch (2010) sieht in Meister Eckhart gar den Vertreter einer neuen Philosophie des Christentums, die institutionell gescheitert ist.

Diese Trennung bzw. Opposition zwischen Mystik-Forschung und Institutionen-Forschung verstärkt auch eine problematische Situation des gegenwärtigen (kirchen-)juristischen Diskurses. Ein Symptom dafür ist die Unsicherheit im Umgang mit kirchlichen Institutionen in (straf-)rechtlichen Konfliktfällen. Heute kollidiert die Behauptung religiöser Freiheit oft mit der Behauptung der institutionellen Religionsfreiheit, die nach außen beansprucht, aber nach innen gegen die Optionen des Individuums durchgesetzt wird: Während Institutionen der Religion dem Trend unterliegen, sich gegen die Suche nach mehr Freiheit in der Form individueller religiöser Selbstvergewisserung zu wehren, können sie gerade deshalb der Suche nach pluraler, emotional und intellektuell bewegter Erfahrung nicht entsprechen. In welchem philosophisch ausweisbaren Verhältnis befinden sich die Freiheit des Gottesverhältnisses auch gerade in den radikalen und unüblichen Ausprägungen und Selbstinterpretationen, und die juristische Reglementierung desselben? Aus dem Fundus der historischen, insbesondere der mittelalterlichen interreligiösen und religiös geprägten Tradition können hier Erfahrungen kritisch reflektiert und sondiert werden im Hinblick auf ihr Reflexionspotential für die Suche nach Lösungen in heutigen Konflikten zwischen religiöser Erfahrung und Glaubensnormen und für die Konfrontation mit Religionsformen der Gegenwart, die sich dem klassisch-modernen Muster nicht fügen. Das setzt freilich voraus, dass die genannte Tradition dem Juristen oder Kanonisten durch Curriculum bekannt und durch Diskursgemeinschaft in einem gemeinsamen Theoriefeld erschlossen und nutzbar gemacht worden ist.

Dem steht auf Seiten der Mystik-Forschung eine ähnlich disparate Forschungslage gegenüber, die diese für sich betrachtet philosophiehistorisch, philologisch und systematisch-theologisch hochwertige Forschung nur stellenweise gesellschaftlich produktiv werden lässt. Auch ihre Terminologien, Instrumentarien und Kategorien, müssen erst einmal in die heutigen Formen der Profile des Religiösen übersetzt und, vor allem, dem juristischen und politischen Diskurs anschlussfähig formuliert werden.

Die Tagung nahm ihren Ausgang genau von diesem „verschwiegenen“ Zusammenhang von Kirchenrecht und Mystikforschung, und kombinierte und konfrontierte die Disziplinen in Vorträgen, Diskussionen und auf zwei Podien. Sie bezog die religiöse Freiheitsfrage - von der Frage nach der Religionsfreiheit gut zu unterscheiden, aber nicht zu trennen - gerade für die historischen Autoren, auf die das Votum für die Freiheit sich vorzugsweise stützt, gezielt auf das Verhältnis von religiösem Individuum und Institution. Für die Bearbeitung dieser Fragen exemplarisch für Meister Eckhart und Margerite Porete war die Rolle des Dominikanerordens und die institutionelle Historie der geistlichen Frauenbewegung, insbesondere der Beginen, in den Blick zu nehmen, und dabei vor allem die genauen systematischen Wechselwirkungen der theologischen, politischen und prozessrechtlichen Momente und Umstände im Detail zu untersuchen. Mainz, damals Sitz des für Erfurt zuständigen Erzbischofs, war dafür ein passender Ort.

Besonders zur Diskussion, die gemäß dem Forschungscharakter der Tagung einen hohen inhaltlichen und zeitlichen Stellenwert eingeräumt bekam, wurden gezielt auch junge Forscherinnen und Forscher eingeladen, die auf diesem Gebiet arbeiten oder arbeiten wollen. Alle Eingeladenen standen während des gesamten Symposiums als Gesprächspartner zur Verfügung (kein Anreisen der Referenten nur für ihren eigenen Vortrag), was einen kontinuierlichen Erkenntnisfortschritt ermöglichte.

Referenten:

  • Prof. Dr. Ruedi Imbach, Paris (verhindert)
  • Prof. Dr. Yoshiki Koda, Tokyo
  • Dr. Irene Leicht, Freiburg
  • Prof. Dr. Dietmar Mieth, Erfurt
  • Dr. des. Britta Müller-Schauenburg, Frankfurt, asoz. KFG Erfurt
  • Prof. Dr. Matthias Pulte, Mainz
  • Dr. Andres Quéro-Sanchez, Regensburg, München
  • Prof. Dr. Hans-Joachim Sander, Salzburg
  • Prof. Dr. Walter Senner OP, Rom
  • Dr. Bernward Springer, Erfurt
  • Prof. Dr. Georg Steer, Eichstätt
  • Prof. Dr. Markus Vinzent, London
  • Dr. des. Joerg Voigt, Marburg
  • Dr. Martina Wehrli-Johns, Zürich

Statements:
  • Wiss. Ass. Christian Ströbele, Tübingen
  • Wiss. Ass. Yen Nguyen, Frankfurt
  • Wiss. Ass. Christian Kascholke, Frankfurt

Freitag, 10. September 2010

14.00 Begrüßung und Einführung in die Fragestellung „Mystik, Recht und Freiheit“
Prof. Dr. Dietmar Mieth, Prof. Dr. Peter Reifenberg, Dr. des Britta Müller-Schauenburg

BLOCK I: Historische Befunde zur Beginenverfolgung und zum Eckhart-Prozess

14.15 – 16.00

Pause

16.15 - 18.00

18.15 Abendessen

20.00 Öffentliche Abendveranstaltung mit Vortrag


Samstag, 11. September 2010

9.00 -11.00


11.15 Podium: Die Freien Geister und der « Freiheit des Geistes » im Anfang des 14. Jahrhunderts
  • mit: Jörg Voigt, Martina Wehrli-Johns, Markus Vinzent, Georg Steer
    Moderation: Dietmar Mieth
12.00 Mittagessen

BLOCK II: Recht, Institution, Mystik

14.30 - 15.30

Kaffeepause

15.45 – 17.15 Podium: „Wann braucht der Kirchenrechtler Mystik?“

  • mit: Yen Nguyen, Christian Ströbele, Martina Wehrli-Lones, Walter Senner, Bernward Springer, Markus Vinzent, Matthias Pulte
    Moderation: Britta Müller-Schauenburg, Christian Fröhling

17.15 - 18.00 18.00 Abendessen

19.00 - 20.45


Sonntag, 12. September 2010

7.30 Ökumenische Morgenfeier (Dr. Leicht, Prof. Senner)

8.30 Frühstück

9.00 - 11.00

11.15 Professor Dr. Dietmar Mieth: Zusammenfassung und Schlußwort
12.00 Gelegenheit zum Mittagessen

Jörg Voigt: Vienne 1311 und die Beginen

Voigt, dessen einschlägige Doktorarbeit im Frühjahr 2011 erscheint, hatte neue Befunde zu berichten, die er aufgrund seines Studium neuer Quellen, insbesondere von Stiftungsurkunden u.a. in Erfurt, Straßburg, Köln und Valenciennes, erschlossen hat. Die bekannte Beginenverfolgung in Straßburg 1317-1319, die sich durchweg in der Literatur findet, hat es demnach nie gegeben. Der bisher als Verfolger markierte Straßburger Bischof Johann von Zürich war ein Schützer der Beginen, im Verbund mit den Medikantenorden. In Straßburg wird zeitweise nach der päpstlichen Aufhebung des Beginenstandes 1319 ff. nur die Bezeichnung „Begine“ nicht mehr benutzt. Eine frühe Strategie des Beschützens bestand in der Einführung einer Unterscheidung zwischen ehrbaren und nicht ehrbar lebenden Beginen. Als eine Strategie des Beschützens kann aber wohl auch in der unterschiedslosen Aufhebung zum Schutz vor der Exkommunikation gesehen werden. Dagegen ist die Verfolgung von Begarden greifbarer.

Martina Wehrli-Johns: Kanonistische Kommentare zu Vienne

Bei den Kommentaren handelt es sich um Erläuterungen der „Clementinen“, d.h. der vom Papst erlassenen Konzilsdokument von Vienne bzw. um die darauf folgenden Erlasse von Bischöfen. Es gab eine lebhafte theologische Auseinandersetzung, insbesondere im Gefolge des Pariser Magister Johannes von Parma OP (Nachfolger Eckharts), eine kanonistische Fixierung der im Fluss befindlichen Umsetzung der Konzilsnormen, und in der Folge davon ein Jahrhundert der Steigerung ihrer Durchsetzung, mitunter durch Verfolgungen, bis zu Johannes Mulberg OP in Basel (1404-1411). Zunächst wurde um die Differenzierung zwischen Beginen / Begarden und Franziskanerterziaren gerungen und die Terziaren wurden ausdrücklich geschützt; später (Johannes Mulberg OP) griff die Verfolgung von dominikanischer Seite bis in die Reihen der franziskanischen Terziaren.

Bernhard Springer: Die Dominikaner und die Inquisition im 14 Jahrhundert

Springer verweist auf den Lebenslauf eines dominikanischen Inquisitors, der beinahe parallel zu dem Eckharts verläuft (1294-97 Prior:; 1307 Professor in Paris, später in Narbonne). Die Zunahme der Inquisition, sehr zögernd in Deutschland und in den Niederlanden, bezeichnet er als eine Art „Verfassungsschutz“ angesichts stärkerer administrativer, fiskalischer und juridischer Bedeutung und Reglementierung der Glaubensfrage. Im Deutschen Reich ist erst mit Karl IV die Errichtung der Inquisition dauerhaft und säkular unterstützt (dazu gehört das Durchgreifen seines Hoftheologen Walter Kerlinger OP in Erfurt 1367). Die Verfolgungen sind gerade auch ordenstheologisch eng mit dem Armutsstreit und der Auseinandersetzung über das apostolische Leben verbunden.

Walter Senner OP: Der Eckhart-Prozess in der Dominikaner-Perspektive

Der bekannt und viel diskutierte Eckhart-Prozess steht u.a. im Kontext einer ordensinternen Auseinandersetzung (in der Mitbrüder, die eine „laxere“ Lebensweise bevorzugten, versuchten, diejenigen beiseite zu schieben, die strenger nach der Ordensregel leben wollten) mit zwei Dominikanerbrüdern (Hermann de Summo; Wilhelm von Nidecke), die, bevor sie sich als Ankläger Eckharts bei der bischöflichen Inquisition in Köln profilierten, ihrerseits wegen übler Nachrede und Nichteinhaltung dominikanischer Instanzenregeln auf Provinzialsynoden verurteilt wurden. Während innerdominikanisch Eckharts Verdächtigung durch Nikolaus von Straßburg, dem Vikar des Papstes, abgewiesen wurde, obwohl dieser als Thomist Eckhart nicht sachlich nahe stand, aber in Köln der Begünstigung der Häresie bezichtigt wurde, mußte Eckhart öffentlich neben seiner theologischen Verteidigung einen „Reinigungseid“ ablegen, der ihn vom Verdacht des hartnäckigen Ketzers befreite. In Avignon hatte Eckhart ebenfalls dominikanische Unterstützung. Im Kölner Prozess „ex officio“ des Erzbischofs spielte die „infamatio“ der Gegner prozessrechtlich gesehen keine Rolle mehr, dadurch veränderten sich die Bedingungen. (s.u. dazu auch Pulte). Zum Vortrag wurde eine sehr hilfreiche Auflistung der prozessbezogenen Dokumente und der Zuordnung von Artikel der Bulle zu den genauen Stellen in den Schriften Eckharts verteilt.

Dietmar Mieth, Abendvortrag: Religiöse Freiheit und Freiheit der Religion (siehe Handout)

These: Freiheiten der Religion ermöglichen Modelle religiöser Freiheit, aber ohne die religiöse Freiheit am Rande der Religion hätte es keine Freiheit der Religion gegeben.

Yoshiki Koda: Eckhart im Prozess

Der Vortrag ging weniger auf das Thema der Dominikaner-Franziskaner-Konstellation des Prozesses ein, sondern sah den Prozess als Bestandteil der „urbanen Dynamik“, in der die Mendikanten auf der progressiven Seite standen und hohes Ansehen auch am päpstlichen Hof besaßen. An der Stellung und Größe des Dominikanerklosters in Avignon läßt sich die bedeutende Stellung des Ordens aufzeigen. Unter den Magistri Curiae, den Hofprofessoren, waren 1306-1376 allein 11 Dominikaner. Im Eckhart-Prozess in Avignon, den Trusen im Unterschied zu Kurt Ruh zurecht von dem Kölner Prozess deutlich unterscheidet und bei dem der Rechtsweg deutlich genauer eingehalten wurde, kann insbesondere eine mäßigende Rolle des Dominikaner-Kardinals Wilhelm Petri von Godino (1304-1306 nach Eckhart Professor in Paris) vermutet werden. 70 Prozent der Kardinäle waren Juristen; dennoch hatte Eckhart auch in theologischer Hinsicht gut ausgebildete und genau argumentierende Gegner und Gutachter. An der Bulle von 1329 fällt einerseits die Herabsetzung Eckharts (Doktor statt Magister) und die Nichterwähnung des Dominikanerordens auf – so, als sollte Eckharts Dominikanersein totgeschwiegen werden. Es ist außerdem, auch gerade im Vergleich mit anderen prominenten Häresieprozessen am selben Ort, ganz ungewöhnlich, dass die Gutachter hier nicht bekannt sind. Möglicherweise sollte hier eine Rufschädigung in mehrerer Hinsicht vermieden werden.

Markus Vinzent: „Salus extra ecclesiam?“ Eckharts Institutionenskepsis

Im Unterschied zu Cyprian und Augustin (Exklusivität des Heils durch die Kirche) betont Eckhart, es „nährt Christus alle Menschen“, d.h. die Brotbitte des Vaterunsers wird bei ihm universalisiert. Eckhart hat so ein radikal inklusives, kein exklusives Heilsverständnis. Damit korrespondierend und darüber hinausragend wird bei der Korrelation zwischen Vater und Sohn, in welche der Mensch hineingenommen ist, auch die Vaterschaft (und nicht nur die Sohnschaft) „ohne Unterschied“ auf die Söhne übertragen (Sermo XIV). Die noch nicht edierte Pr. 54 ed. Pfeiffer spricht sogar von wechselseitiger Zeugung. Die Wissenschaftsfreiheit der Theologie wird vom Eckhart in seinem Kommentar In Eccl. gegen jede Instrumentalisierung verteidigt. Die „Abgeschiedenheit“ richtet sich gegen jeden Handel um des Heiles willen. Gelassenheit ist nicht nach dem Modell des Verlassens und Gewinnens, sondern nach dem Modell des resoluten Loslassen zu denken.

Matthias Pulte: Ketzerverfolgung in Köln

Für die Ketzerprozesse muss man die Rechtsprechungsmethodik unterscheiden. Es gibt in der Entwicklung des Prozessrechts vier wichtige historische Stufen: 1. der Akkusationsprozess des römischen Rechts mit persönlicher Klageschrift eines Betroffenen, 2. das Sendgericht, die synodale Anklage, die in erster Linie auf Untersuchung des Lebenswandels und ggfs. auf moralische Bloßstellung abzielte und die Beweislast auf den Beklagten legte, eine Differenzierung zwischen Buße und Strafe noch nicht kannte – ein für die Belangung von Häresie ganz ungeeignetes Verfahren, 3. der Infamieprozeß, also die Beschuldigung aufgrund von Hörensagen (Infamie), die die prinzipiell durch jedermann mögliche Anzeige voraussetze, und zum Ziel hatte, den Anspruch an Besetzung von öffentlichen Ämtern nur mit gutbeleumdeten Personen zu gewährleisten, und in dessen Rahmen der öffentliche Reinigungseid eine wichtige Funktion besaß (siehe Eckhart-Prozess), und 4. die Inquisition, deren Verfahren sich erst allmählich entwickelte, und bei der erstmals wieder der objektive Tatbestand in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt wurde, und nicht der Leumund der Person. Das ist prozeßrechtshistorisch betrachtet als Fortschritt zu bezeichnen. Problematisch erscheint die Nichttrennung von Ankläger und richterlicher Gewalt. Ein früher Meister der „peinlichen Befragung“, die später als innovatives Untersuchungsverfahren formal eingeführt wurde, war Konrad von Marburg, der dies bereits lange vor der Einführung angewendet zu haben scheint. Die Inquisition (seit 1184) verband sich regional unterschiedlich mit dem weltlichen Strafvollzug (1215, IV. Laterankonzil) und mit der Folter (1252, Innozenz IV. Bulle Ad extirpanda). Die erzbischöfliche Inquisition in Köln dokumentiert u.a. drei Fälle (Begharden, Bruder Walter, Eckhart). Im letzteren behauptete sich die erzbischöfliche Instanz gegen die dominikanische Instanz, die auf der Exemtion beharrte, indem „ex officio“ die Zuständigkeit für den Glauben der Zuhörer(innen) von öffentlichen Predigten reklamiert wurde.

Podium: Kirchenrecht und Mystik

Bei aller Eigenständigkeit juridisch-institutioneller Referenzen braucht Rechtspraxis Verstehen für das, worauf sie sich bezieht. Die starke Trennung von Kanonistik und Theologie steht dem im Wege. Auf der einen Seite gibt es die divine Erhöhung des Anspruchs („göttliches Recht“, und der Anspruch des Kirchenrechts, sich nicht allein auf Konvention zu beziehen, sondern von Gottes Gerechtigkeit her zu denken), auf der anderen Seite ein Absenken des Anspruchs im Hinblick auf diese Gerechtigkeit. Wenn wie bei Eckhart, Gerechtigkeit ein rechtfertigender Name Gottes ist, dann manifestiert sich die religiöse Erfahrung auch als „Eifer für die Gerechtigkeit“ (so Eckhart in seiner Rechtfertigung). Diese Ressource, die für das Kirchenrecht wahrscheinlich insbesondere in der Legislative und in der Judikative relevant werden kann, weil dort, wo – reflexiv noch einmal eingeholt oder auch sich selbst darüber kaum bewußt – Entscheidungs- und Urteilsprozesse stattfinden, die zwar „amtlich“, aber im Letzten doch unvertretbar von einem Individuum zu fällen sind, bietet für die theologische Selbstkritik und Selbstreflexion dieser Prozesse einen Fundus von Begriffen und Kriteriologien, die kanonisches Recht gerade auch davor bewahren können, selbst Immunisierungsstrategien zu unterliegen. Der Bezug auf Mystik ist, im Gegenüber zur Rechtsform, nicht selten als Immunisierung der Legitimation gebraucht worden. Und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat das insgesamt das „horizontale“ Ansehen des Faches Kirchenrecht innerhalb des theologischen Disziplinenspektrums sehr gelitten. Es gab zunehmend eine Gegenüberstellung von „Kirchenrecht“ vs. „Pastoral“ in Geringschätzung des Kirchenrechts. Aber auch von Seiten des Kirchenrechts gibt es Immunisierungsstrategien gegenüber den Fragen, denen diese Disziplin, im Unterschied etwa zum staatlichen Recht, durch die Verankerung in der Theologie und der Kirche als Heilsinstitution ausgesetzt ist. Der Anspruch des „göttlichen Rechts“ wird manchmal sehr unvermittelt erhoben, und die Grundlagenreflexion des Kirchenrechts holt die Komplexität und die Aktualität der Anfragen nicht mehr ein. Historisch kann man sagen, dass es substanziell verbunden ist mit der Freiheitsgeschichte und mit der Vorgeschichte der Moderne, etwa im Sinne des Rechts des je anderen, gehört zu werden: Dies ist ein Gedanke des antiken Rechts der sich in sehr unterschiedlichen prozessrechtlichen Entwicklungen und Formen weltlich und kirchlich konkretisierte, und den die Philosophie seit der Aufklärung und die Theologie vor allem in der Spätmoderne aufgriff.

Andres Quéro-Sanchez: Eckharts Freiheitsverständnis

Der Referent bezog sich auf den der Bulle inkriminierten „Freiheitsartikel“ Eckharts in der deutschen Predigt Nr. 6. Dort wird nicht nur die Knechtschaft, sondern auch die Empfangshaltung des Menschen gegenüber Gott abgelehnt, die Gott zum bloßen Herren degradiert. Dies beruht auf dem idealistischen Seinsverständnis, das sich schon bei Heinrich von Gent findet, zwischen einem „esse actualis“, das „ab alio“ ist und einem „esse essentiae“, das formaliter Gleichheit ermöglicht. Die Zurücknahme der aktuellen „Eigenschaft“ ist zugleich Aufgabe des Selbstseins und Behauptung des Selbstseins im essentiellen Sinne. Selbstaufgabe geschieht nicht um Lohnes willen, deshalb kann der Mensch nicht um die Gabe bitten. Darüber hinaus gibt es bei Eckhart eine Vergleichgültigung des bloß „da“ seins, die sich in der Warumlosigkeit und der Gelassenheit zum Ausdruck bringt. Die theologischen Gutachter haben dies wohl verstanden, aber nicht billigen können. Gleichgültigkeit ist hier aber nicht psychologisch als Abwesenheit von allen Störungen des aktuellen „da“ seins zu verstehen.

Irene Leicht: Marguerites „Frühprotestantismus“

Freiheit bei Marguerite und dem jungen Luther, der Tauler und die Theologia deutsch gelesen hat, ist ein „Nicht wollen von Werken und von Sündenangst“. Luther, der Freie („eleutheros“), sucht, wie Marguerite, die passive Souveränität des Menschen, er im Glauben, sie in der Liebe. Es gibt dabei eine dispositive Geeignetheit, aber nicht eine Bestimmtheit durch freie Willkür. Marguerite und Luther überbieten die kontemplative Lebensweise, das Vertrauen in eine geistige Lesekultur, durch die Verbindung von Einfachheit („simple“), Nichtigkeit („annéanti“) und Freiheit. Beide verbindet auch eine komplexe Gottesrede, bei Luther der „deus absconditus“, bei Marguerite der Fernnahe („loingprés“). Luthers Konzept von der Kirche als „creatura verbi“ läßt sich mit der „größeren“ Kirche („l´église la grande“) bei Marguerite verbinden, welche die Ressourcen der Innerlichkeit nicht einengt.

Britta Müller-Schauenburg: Hundert Jahre danach

Pedro de Luna (1342-1423), als Benedikt XIII. Avignoneser (Gegen)Papst, Professor für Kirchenrecht, durchkreuzt mit seiner Biographie das Schema des schwachen Individuums in Opposition zur übermächtigen Rechtsinstitution Kirche auf ganz besondere Weise. Bei aller Bereitschaft, das Schisma durch Rücktritt zu beenden, stellt er an die Rechtsform, in welcher dies zu geschehen habe, genaue Ansprüche, mit denen er zuletzt zugleich im obersten Amt der Kirche und als für gründliches Nachdenken und Gerechtigkeit bekanntes und selbst von seinen Gegnern geachtetes Individuum scheitert. Er scheitert damit gegenüber einem mehrheitlich weltlichen Gremium, das eigenen Zielen einen Jan Hus opfert und zumindest in der Auseinandersetzung mit Benedikt XIII. dem Pragmatismus der Mächtigen gegenüber der Sorgfalt in der Rechtsform Vorrang zuspricht. Als extraordinär gebildeter Mensch führte er eine Bibliothek mit sich, groß wie diejenige der Sorbonne, die heute erst langsam aus erhaltenen Katalogen und Indizes erschlossen wird, und die eine eigene Abteilung häretischer und antihäretischer Literatur enthielt. Das Glaubenswächtertum im Amtsverständnis des Papsttums wird darin greifbar, aber auch die Überzeugung von einer Rechtsauffassung als Kontrolle der Glaubens-Spontaneität, die sich letztlich damals gegenüber dem Konziliarismus nicht durchsetzen konnte, aber bis heute das Konstanzer Konzil aus den verbindlichen katholischen Glaubenskompendien heraushält.

Hans-Joachim Sander: Gefährlich Glaubende

Der Vortrag geht aus vom Blick auf Machttheoreme der Neokonservativen, und benennt dafür Carl Schmitt und Leo Strauß. These: Obwohl „Mystik und Politik“ von J.B. Metz zusammengebracht werden, kennzeichnet „das Mystische“ doch eher eine Ohnmacht. Was aber ist die Macht in dieser Ohnmacht? Sieht man wie Innozenz III oder Strauß den Menschen als riskant und gefährlich an, der zutiefst „herrschaftsbedürftig“ sei, dann ist die autoritäre Institution der einzige Schutz gegen Anarchie, und Liberalität wird nach Utopia verwiesen. Nun kann aber gerade dann, wenn die autoritär ausgestattete Macht die Ohnmacht als anarchisch und damit als „gefährlich“ einstuft und sie gleichsam durch Bekämpfung in die Rolle des Widerparts drängt, sich die Machtfrage in Gestalt der Ohnmacht, die durch den Tod, ja sogar durch die „damnatio memoriae“ (bei Marguerite) geht, neu stellen. Freiheit ist dann kein „Nichtort“ (Utopia im Sinne von Morus) sondern ein „Andersort“ (Foucault), eine „Heterotopie“, die unverfügbar bleibt, wie das immanente „Bürglein“ der Seele (Pr. 2 bei Eckhart), das anderen verschlossen ist. So kann die Ungefährlichkeit Macht ausüben, indem sie von der Macht im Sinne einer „self-fullfilling prophecy“ dazu gebracht wird.

Schluss: Innovatorisches und Dialogisches (Mieth)

In seinem Beitrag „Freiheit der Ketzer“ hat der renommierte Herausgeber der Inquisitionszeugnisse im 14. Jahrhundert, Alexander Patschovsky, die These aufgestellt, der Glaube sei auch von den Ketzern nicht in die Freiheit des einzelnen gestellt. Sie teilten Wahrheitsfanatismus und Intoleranz mit der Inquisition. Die Freiheit des Andersdenkenden habe es nicht geben können. Theologische Rechtfertigung: Das Unkraut durfte nicht bis zum Ende des Gerichtes im Sinne des Weltendes mit dem Weizen wachsen, weil die Kirche schon eine Vorwegnahme dieses Endes darstellte, wenn sie die Wahrheit feststellte.

Die Tagung hat diese These als falsch erwiesen. Marguerite war nicht intolerant gegenüber der „kleinen“ oder „kleinlichen“ Kirche; Marguerites theologischer Leser Gottfried von Fontaine teilte ihre Auffassung nicht, war aber tolerant; Nikolaus von Straßburg unterstützte Eckhart, obwohl er als Thomist dessen Ansichten nicht teilte; die Beschlüsse über die Begharden und Beginen von Vienne konnten, teils von Bischöfen im Verein mit Mendikanten, teils von Fürsten, relativiert oder sogar unwirksam gemacht werden; sie entfalteten erst eine späte und selektive Wirkung. Wahrheit und Freiheit konnten zusammengedacht werden, wenn auch in Auseinandersetzung mit starken Gegenmotiven und mit u.a. zwei exzellenten „Opfern“ sehr unterschiedlichen Grades, denn der Prozess gegen Eckhart war vergleichsweise fair.

Die Tagung entfaltete drei Ebenen der Frage nach dem Verhältnis von Mystik, Recht und Freiheit:

  1. Die historische Ebene
  2. Die interdisziplinäre Ebene
  3. Die Ebene des Gesprächs zwischen Experten, jüngere dabei eingeschlossen, und akademischen und außerakademischen Interessenten.
Auf allen diesen Ebenen war die Debatte fruchtbar, zeigt aber auch, dass man dieses Konzept öfter planen und durchführen müßte.

Dietmar Mieth: Religiöse Freiheit und Freiheit der Religion

  1. Fälle, welche die Differenz zwischen religiöser Freiheit und Freiheit der Religion aufzeigen
    1. Heute: der Kopftuch-und der Minaretten-Streit; dürfen muslimische Sportler den Ramadan brechen? Umfaßt die Freiheit der Religion auch ihre rechtliche Autonomie? Wieweit? Ist Religion abwählbar?
    2. Fälle aus dem Spätmittelalter: Marguerite als Vertreterin der religiösen Freiheit: Eckhart als Begründer einer philosophischen Religion als Glaubensablösung (so Kurt Flasch, Epilog 2010,324: Rationalismus gegen „Fideismus“ als Entstellung und Verdüsterung);
    3. Die Debatte um Willigis Jäger: Mystik als Ort und Chance der religiösen Freiheit beläßt zwar, aber überbietet zugleich die konkrete Religionszugehörigkeit.
  2. Klärungen
    1. Freiheit der Religion
      • Der Begriff Religion, der Anspruch an „Religion“ (vgl. Debatte um islamischen Religionsunterricht und seine akademische Ausbildungsform)
      • Anschlussfreiheit
      • Ausübungsfreiheit
      • Selbstgesetzlichkeit im Rahmen oder über den Rahmen hinaus (vgl. Konkordate usw.)
    2. Religiöse Freiheit
      • Von der Religion geforderte Freiheit (vgl. Zisterzienser im 12 Jh.); gelehrte und gelenkte Freiheit
      • Von der Religion eingeschränkte Freiheit (Beispiel: Austrittsfreiheit; Glaubensfreiheit uw.), Bulle Papst Johannes XXII 1328: mehr wissen, als nötig ist? Eckhart: dies zu wissen, ist nicht notwendig.
      • In der Religion entdeckte und (an ihren Rändern) gelebte Freiheit: Mystik?
      • Religiöse Freiheit mehr als Freiheit der Religion: „from chance to choice“? „Privatmystik“ (D.Sölle)
      • Religiöse Freiheit gegen Religion?
      • Ein pietistisches Thema: Erfahrung gegen Sakrament
  3. Probleme
    1. Hätte es ohne die Freiheit der Religion die religiöse Freiheit gegeben?
    2. Religion und Staat: einander zu nahe (Mittelalter, Iran), zu ferne (Laizismus), zugleich fern und nah (USA)
    3. Libertas Ecclesiae als päpstliches Programm? Pariser Lehrfreiheit im Mittelalter; Kontrolle durch Rom u n d Paris? Als Beispiele: Marguerites Bewertung durch Gottfried de Fontaines und Eckharts Appell an die akademische Freiheit
    4. „Harmonia diversorum“ (Adam von St.Viktor) als chinesisches Motiv?
    5. Unterscheidung oder Trennung des Guten (der Religion) vom Richtigen (der moralisch-rechtlichen Normen): Platonismus, islamischer Integrismus
  4. Freiheit der Religion und Liberalität des Demokratischen Rechtstaates
  5. Texte: Marguerite und Eckhart über die Freiheit
  6. Lösung: Korrelation (wechselseitige Förderung) von religiöser Freiheit und Freiheit der Religion?

Eckhart (Pr. 29: „Unde der geist enmac niht anders wellen, dan daz got will, und daz enist niht sîn unvrîheit, ez ist sîn eigen vrîheit“)

Marguerite Porete (Le Miroir … zit. und übers. nach der neufrz. Übers. Max Huot de Longchamps. Paris 1984.1997), Kapitel 82:

« Wie diese Seele ihre durch ihre vier „Teil-Orte“ (quartiers) frei ist

(Die Autorin zu den Zuhörern): Die Seele, die sich auf vollendete Weise in diesem Zustand (der Freiheit) befindet, ist frei durch ihre vier Teilorte. Es ist wirklich notwendig, dass ein Mensch vier edle Orte besitzt, bevor er selbst edel genannt werden kann, auf gleiche Weise vollzieht sich dies im spirituellen Sinne.

Der erste Ort, durch den diese Seele frei ist, besteht darin, dass sie in sich selbst keinerlei Vorwurf erfährt, auch dann nicht, wenn sie keinerlei Werke der Tugend ausübt oder vollzieht. Im Namen Gottes, ihr, die ihr zuhört, versteht, wenn ihr könnt! Wie wäre es möglich, dass die Übung der Liebe sich von Werken der Tugend begleiten lässt, wenn es doch notwendig ist, dass alle Werke dort aufhören, wo die Liebe wirkt? (Referenz: Augustinus: „ama et fac quod vis.“ Liebe und dann tu was du dann willst.)

Der zweite Ort besteht darin, dass sie keinen (Eigen)Willen hat, nicht mehr als die Toten in den Gräbern, allein der göttliche Wille existiert. Diese Seele kümmert sich weder um Gerechtigkeit noch um Barmherzigkeit: sie ist ganz und gar auf den Willen dessen, der sie liebt, ausgerichtet. Das ist der zweite Teilort, durch den die Seele frei ist.

Der dritte Teilort besteht darin, dass sie glaubt und behauptet: niemals sei eine Person schlechter als sie gewesen, sei es in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft und niemals eine Person mehr von dem geliebt, der sie genauso liebt, wie sie ist. Merkt euch das und versteht es nicht andersherum!

Der vierte Teilort besteht darin, dass sie Folgendes glaubt und behauptet: so wenig wie Gott nichts anderes wollen kann als das, was gut ist, so wenig kann sie etwas anderes wollen als seinen göttlichen Willen. Der Liebende hat sie so mit sich selbst bereichert, dass er diesen Glauben bewirkt, er, der sie, aus und durch seine Güte, in diese Güte verwandelt hat; er, der aus seinem und durch seinen göttlichem Willen, sie vollständig in diesen Willen verwandelt hat. Er ist dies, durch sich selbst und in sich selbst für sie; und gerade dies glaubt und behauptet sie, andernfalls wäre sie nicht frei durch alle ihre „Quartiere“.

Versteht den verborgene Sinn darin, ihr Zuhörer dieses Buches, denn darin findet sich das Korn, das die Braut nährt, dies ist ausreichend, damit sie in den Zustand gerät, wo Gott sie ins Sein setzt, dort wo sie ihren Willen aufgegeben hat und wo sie daher nur den Willen dessen wollen kann, der aus sich selbst und für sie, sie in in seine Güte verwandelt hat.

Und wenn sie (die Seele) nun so in allen Richtungen frei ist, dann verliert sie ihren Namen; denn sie steigt auf in die Souveränität. Und darum verliert sie ihren Namen in demjenigen, in welchem sie durch ihn und in ihm verschmolzen und durch ihn und in ihn… zurückgekehrt ist. Genau so wie es bei einem Wasser geschieht, das aus dem Meere fließt, das keinen Namen hat, man könnte sagen wie der Namen der Oise und der Seine oder wie bei einem anderen Fluß. Doch kehren dieses Wasser und dieser Fluß wiederum ins Meer zurück, verliert es seinen Lauf und seinen Namen, unter dem es manche Länderei durchflossen hat, indem es seinem Sein folgte. Nun ist es im Meer, und da ruht es sich aus und hat damit seine Mühe aufgegeben. Ebenso verhält es sich mit dieser Seele. … Sie hat nur mehr den Namen dessen, in den sie vollständig umgewandelt wurde, nämlich in den Bräutigam ihrer Jugend, der seine Braut ganz in sich umgewandelt hat. Er i s t, also ist auch diese. Und das genügt ihm wunderbarer Weise, worüber sie verwundert ist. Und dies ist die lustvolle Liebe, durch die auch sie ganz Liebe ist. Und eben dies macht sie vergnügt.“ Die Übersetzerin, Louise Gnädinger, betont hier den neuplatonischen Rückkehrweg, aber man ist doch, trotz dieses Bezuges, näher, wie ich meine, bei Paulus: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal. 2,20)

Kapitel 113 (vgl. das gleiche Bibelzitat in Kap. 94):

„Die Autorin (Vorleserin): Ich geben allen, die dieses Buch anhören, zu wissen, dass wir innen in uns – durch fromme Gedanken, durch Werke der Vollkommenheit, durch Einsatz der Vernunft – nach unserem Vermögen das ganze Leben, das Jesus Christus führte und das er uns predigte, uns aneignen müssen. Denn das Buch sagt, wie er es sagte: wer an mich glaubt, der wird solche Werke vollbringen, wie ich sie tue, und er wird noch größere vollbringen (Joh 14.12). …Und falls wir das tun nach unserem Vermögen, werden wir dahin gelangen, all das zu erreichen, indem wir die die (anfänglichen) frommen Gedanken, die Werke der Vollkommenheit und die Fragen der Vernunft wieder aus uns ausräumen: denn jetzt wissen wir damit nichts mehr anzufangen. Gott wirkt von nun an in uns, für uns, ohne uns, seine göttlichen Werke. Er ist, der er ist. Darum ist er das, was er durch sich ist: Liebender, Geliebter, Liebe.“

Meister Eckhart, Predigt 1 zur Tempelreinigung:

Eckhart erklärt, wer die ausgetriebenen „Kaufleute“ sind: „Kaufleute“ leben zwar gottgefällig, aber um der Belohnung willen, sie „markten“ mit dem Herrn, aber sie müßten es tun wie er selbst: „Gott sucht das Seine nicht, in all seinen Werken ist ledig und frei und wirkt sie aus echter Liebe. Ganz so handelt auch der Mensch, der mit Gott vereint ist: er bleibt in all seinen Werken beständig ledig und frei, wirkt sie allein zu Ehren Gottes, sucht das Seine nicht, und Gott bewirkt dies in ihm.“

Das ist, fährt Eckhart fort, zwar gut, aber es reicht nicht für die wahre Freiheit, die der Freiheit Christi entspricht. Es geht vielmehr darüber hinaus um eine Freiheit des Menschen in gleicher „Würde“ (wirdicheit“). Dies ist erreicht, wenn der Mensch an der Geburt Jesu Christi „im Ursprung“ (in principio Joh 11,1) aus dem Herzen des Vaters teilnimmt, also so frei ist, wie er war, als er noch nicht war. (vgl. Pr. 52). Daran hindern ihn „eigenschaft“ (Selbstbesitz und Selbstbehauptung) und Unwissen (Unverständnis). Die wahre Freiheit ist der Tempel des ungeschaffenen Gottes. In seinem „freien Vermögen“ kann der Mensch „noch in der Zeitlichkeit“ „über die Weise der Engel und der geschaffenen Vernunft hinaus gelangen. „Gott allein ist frei und ungeschaffen, und daher ist er allein ihr (der Seele) gleich der Freiheit nach, nicht aber im Hinblick auf die Unerschaffenheit, denn sie ist geschaffen. Wenn die Seele in das unvermischte Licht gelangt, so schlägt sie in ihr das Nichts so weit weg von dem geschaffenen Etwas inmitten des Nichts, dass sie mitnichten aus eigener Kraft wieder in ihr geschaffenes Etwas zurückkehren kann. Gott stellt sich mit seiner Unerschaffenheit stützend unter ihr Nicht und hält die Seele in seinem eigenen Sein.“ Wie im Tempel, so spricht allein Jesus in und zu der schweigenden Seele. Er spricht, dass er ein „Wort des Vaters“ ist, zugleich „innebleibend“ und „ausleuchtend“, der Mensch empfängt Sohnes-Gleichheit in Freiheit aus der „Gnade“ des Wortes willen. Dies ist nicht elitär gemeint. Pr. 66: „Seht dies kann der Ungebildete und der Geringste unter euch allen von Gott empfangen, noch ehe er heute aus dieser Kirche kommt, ja. Noch ehe ich heute zu Ende predige, in voller Wahrheit und so gewiss, wie Gott lebt und ich Mensch bin.“

Dietmar Mieth, 23.9.2010

Inhaltsverzeichnis
Leseprobe (Einleitung, S. 7-11)